Die Sammler & die Sammlerin


Inhalt:
Dies ist ein kleiner Film: keine Stars, kein großer Titel, ein winziges Budget, keine nennenswerte Werbekampagne. Agnès Vardas neuester Film Les glaneurs et la glaneuse zeigt die noch heute lebendige Tradition, in welcher Menschen, manchmal freiwillig, manchmal aus Not, nach der Ernte oder den Wochenmärkten Kartoffeln, Äpfel und andere zurückgelassene Dinge auflesen, nur dass heutzutage die Sammler auf ihren Wegen genauso gut Kühlschränke und anderen Schrott vorfinden können. Die Leute, die Varda filmt, leben oft am Rande der Gesellschaft und die Tatsache, dass sie deren Vertrauen und Kooperationsbereitschaft gewonnen hat, wirft ein Licht auf die persönliche Integrität der kunstfertigen Filmemacherin. "Filmemachen ist auch eine Art des Sammelns", sagt sie. Vardas "Wanderstrassen-Dokumentarfilm" wurde zunächst wenig beachtet. Doch als der Film von Canal + ausgestrahlt wurde und dann am nächsten Tag ins Kino kam, löste er ein für einen Dokumentarfilm überraschendes Echo aus: eine enthusiastische Presse, Warteschlangen vor den Kinos, 43.000 Zuschauer in nur neun Wochen... Die Zuschauer applaudierten wie im Theater.

Kritik:
Les glaneurs et la glaneuse ist ein Wunder an Freiheit und Genauigkeit, Neugier und Geduld, Verspieltheit und Zärtlichkeit. Die Regisseurin von Vogelfrei und Cléo von 5 bis 7 beginnt mit François Millets berühmtem Bild von den Kartoffelklauberinnen und kommt von dort vom Hundertsten ins Tausendste – oder eigentlich eher umgekehrt: Sie kommt ihrem Thema immer näher, indem sie es immer weiter faßt und zeichnet am Ende ein Bild unserer (Wegwerf-) Gesellschaft, das in gleichem Maße poetisch wie politisch ist. Sie beginnt mit der Erkenntnis, daß Erntemaschinen die mühselige Kartoffelernte von Hand überflüssig gemacht haben. Aber dann stellt sie fest, daß es das durchaus noch gibt, wenngleich in anderem Zusammenhang. Abseits der Konsumgesellschaft gibt es immer noch Leute, die sich bücken und die Reste auflesen. Sie wühlen in den Abfällen der Wochenmärkte, durchsuchen die Mülltonnen hinter den Supermärkten, pflücken, was bei der Ernte übersehen wurde. Varda findet ihre Helden auf Obstplantagen, auf Müllkippen und Schrottplätzen. Godard hat einmal behauptet, er habe seinen Film auf dem Schrottplatz gefunden – Varda nimmt ihn beim Wort. Mit ihrer kleinen Kamera zieht sie los und liest ihren Film sozusagen von der Straße auf. Das ist keine Sozialreportage, sondern eine Reflexion über eine Gesellschaft, die von dem lebt, was durch den Rost fällt. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr raus, was für Geschichten sich auf der Unterseite des Kartoffelklauber-Bildes finden – man muß sich nur bücken. Ein Film voller Lebendigkeit, voller Zugewandtheit zum Leben.
Michael Althen