Interview
Wie sind Sie auf die Idee zu
NUE
PROPRIÉTÉ gekommen?
Meine eigene Familiengeschichte inspirierte mich. Es gab eine Zeit, als
ich aufwuchs, in der ich plötzlich
das Gefühl hatte, im Besitz einer Macht zu sein, die mir nicht zusteht.
Eine natürliche Entwicklung schien
umgedreht. Ich hätte meine Mutter daran hindern können, ihr eigenes
Leben zu leben, ihre eigenen
Vorstellungen zu verwirklichen. Dies gab mir die Idee, die Geschichte
zweier Brüdern zu schreiben, die
sich ihrer Mutter gegenüber wie Eltern benehmen. Dabei befindet sich
plötzlich die Mutter in einer
bizarren Situation, in welcher sie ihre Söhne um Erlaubnis bitten muss,
sich emanzipieren zu dürfen.
War es Absicht, die
Rolle der beiden Brüder im Film, Thierry und François, auch mit
zwei «wirklichen»
Brüdern zu besetzen? Wann haben Sie an Jérémie und Yannick
Rénier gedacht?
Das war mehr als nur Absicht, es war Teil der Grundidee. Ich habe die
beiden sehr früh in den
Schreibprozess integriert. Die Bruderschaft als eigenartige Bindung
existierte damit sowohl im Leben als
auch auf der Leinwand. Ich habe authentische Emotionen gesucht und
diese Konstellation erlaubte die
Beschränkung auf präzises Beobachten ohne Dinge erfinden zu müssen.
Ist die Mutter die
Hauptfigur?
Das war eine wichtige Frage, als wir das Drehbuch schrieben. Und noch
während des Schnitts haben wir
uns dies immer wieder gefragt. Der Film beschreibt ein Familiensystem,
in welchem keiner der
involvierten Menschen wichtiger ist als der andere. Würde man das
System auflösen, würden sich auch
die Konflikte einstellen. In dieser kompakten Zelle gibt es aber eine
Funktionsstörung: Die Söhne sind zu
Eltern geworden und die Mutter zum Kind. Ich wollte und musste jeder
Einheit dieser Zelle gleich viel
Gewicht und Aufmerksamkeit zugestehen. Für mich sind alle drei Figuren
gleich wichtig.
Ist der vierte
Protagonist des Films das Haus?
Ja. Es ist, was alle Mitglieder der Familie verbindet – den fehlenden
Vater inbegriffen. NUE PROPRIÉTÉ
ist eine Reflexion über Eigentum. Filme zu machen, bedeutet eigentlich
auch, Dinge zu geniessen, auch
ohne sie zu besitzen.
Was können Sie zur
Kameraarbeit und zu den Bildern sagen?
Ich wollte, dass jede Figur, wenn sie sich zurückziehen wollte, dies
nur tun konnte, indem sie gleichzeitig
auch das Bild, die Einstellung verlassen musste. Der Rahmen der
Einstellung wird dadurch zu einer Art
Haus, welches die Figuren nicht verlassen können. Wenn zwei Figuren im
Bild stehen und eine dritte
Figur dazukommt, geht diese fast immer durch das ganze Blickfeld und
bedeckt dabei das Bild. Dadurch
wollte ich suggerieren, dass die Ankunft der dritten Figur den Konflikt
hervorbringt. Wenn man mit fixen
Einstellungen arbeitet, gibt man den Schauspielern nicht nur viel Raum
für ihre Arbeit, sondern ermöglicht
auch den Zuschauern das zu betrachten, was sie gerade möchten.
Im Film fällt es auf,
dass jede Essensszene eine extreme Anspannung erreicht.
Essen gehört zu jenen Dingen, die wir im Leben am meisten tun. Essen
ist ein Trieb des Lebens. Wenn
ich zeige, wie die zwei Brüder nie aufhören zu essen, und wie die
Mutter sie entsprechend verpflegt,
mache ich auch etwas Signifikanteres sichtbar bei dieser Familie. Sie
fressen sich gegenseitig auf.
Alle Ihre Filme sind
auf eine ganz besondere Art belgisch: Es kommen immer Flämische
Figuren darin vor.
Kris Cuppens («Jan» in NUE PROPRIÉTÉ) war Schauspieler und ein Freund
von mir, als wir für den Film
TRIBU zum ersten Mal zusammen arbeiteten. Ich habe dann bemerkt, dass,
wenn er in französischer
Sprache spielt, sein Ausdruck etwas ganz besonderes gewinnt. Er kümmert
sich dann nicht mehr so sehr
darum, was er macht, sondern um das, was er sagen muss. Was die
gespannten Beziehungen zwischen
Flamen und Wallonen betrifft, hat Kris dabei durch seine flämische
Herkunft unerwartet einen weiteren
Aspekt über das Zusammenleben generell sichtbar gemacht: Flamen und
Wallonen haben die
Fantasievorstellung, alleine auf ihre eigene Seite der Grenze zu leben.
Wer aber unter sich bleibt riskiert,
was der Familie in NUE PROPRIÉTÉ passiert: Wenn man keine dritte Person
hineinlässt, wird es zum
Chaos.