Von panischer Angst ergriffen, legt Christelle
(Marilyne Canto) den Telefonhörer auf. Wasser sickert unter der Badezimmertür
hindurch, ein Waschbecken läuft über, die junge Frau flieht aus ihrer
Wohnung und lässt ihre kleine Tochter in der Badewanne zurück. Sie läuft,
überlegt es sich noch einmal, ruft aus einer Zelle an, bringt kein Wort
heraus und findet schließlich eine Etage höher bei ihrer Nachbarin (Dominique
Blanc) Zuflucht. Sie steht unter Schock und ist zu keiner Erklärung
fähig. Christelle will nicht in ihre Wohnung zurückkehren, will ihren
Mann nicht mehr sehen und versinkt in völliger Ratlosigkeit. Der Film
von Dominique Cabrera beginnt mit dieser Beschreibung des Ausbruchs
einer inneren Krise, eine Frau steht unerklärlicherweise am Rande eines
Abgrunds und scheint jeglichen Bezugspunkt verloren zu haben. Mit seiner
Schulterkamera fängt Cabrera wie zufällig Bilder ein, die eine dramatische
Stimmung und eine derartige Spannung aufbauen, dass das Ganze fast unwirklich
anmutet. Neben Christelle tauchen weitere Personen auf: ihre Schwester
(Mathilde Signer), ihre Mutter (Marthe Villenage), der Freund (Olivier
Gourmet), Christelles Ehemann (Patrick Brunel), die alle tief besorgt
nach der jungen Frau suchen, während die Nachbarin und ihr Gefährte
(Sergi Lopez) versuchen zu verstehen und sich wortlos um Christelle
kümmern. Dominique Cabrera vollzieht einen ständigen Drahtseilakt zwischen
ihren Figuren. Sie folgt der einen, wendet sich dann einer anderen zu,
und kehrt doch immer wieder zu Christelle zurück. Parallel zur Schilderung
des Freiheitswillens der jungen Frau werden die Beziehungen der anderen
untereinander beleuchtet. Die Suche nach der eigenen Identität, die
Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Hingabe, das Bedürfnis nach dem Anderen
werden zum eigentlichen Leitfaden des Films.
"Christelle, Fabrikarbeiterin und Mutter
dreier Kinder, erleidet eine Wochenbettdepression. Lässt ihr Baby liegen
und flüchtet ein paar Tage zur Nachbarin. Schweigt, schläft, stiert
in den Fernseher. Behutsam tastet sich die Kamera an die Figuren heran,
riskiert Unschärfen, Rätselbilder, Suchbewegungen. Cabrera behauptet
nicht, dass sie begreift, warum sich Christelle so eigenartig verhält.
Kein Glück, nirgends: der Ehemann, die Eltern, die Arbeitskollegen,
die Nachbarin, deren verheirateter Freund - alle begleitet der Schatten
eines verpassten Lebens, den Cabrera in hellen, lichtdurchfluteten Räumen
ausmacht. Und weil der Film mit Marilyne Canto, Dominique Blanc, Sergi
Lopez und Valeria Bruni-Tedeschi lauter wunderbare Schauspieler versammelt,
galt er in Locarno neben "Delbaran" als Kandidat für den Goldenen Leoparden."
Christiane Peitz im Tagesspiegel, Berlin (zum Filmfestival Locarno 2001)