Agnes, eine Lehrerin aus der hessischen Provinz kommt nach Berlin. Sie
soll ein totes Mädchen identifizieren. Die Polizei vermutet, dass es sich
um ihre fünfzehnjährige Tochter Lydia handelt, die von zu Hause
weggelaufen ist. Es ist nicht Lydia. Trotzdem bleibt Agnes in der Stadt.
Angetrieben von der Hoffnung, irgendwo ihre Tochter zu finden. Eine
verzweifelte Suche beginnt. Bahnhofsmissionen, Drogentreffs,
Kontaktstellen für Obdachlose. Orte, die Agnes normalerweise meidet. Die
sie ängstigen. Das Schlimmste: nicht zu wissen.
Ines lebt seit Jahren in dieser Stadt. Oft auf der Straße. Manchmal bei
Menschen, die ihr Obdach geben. Ein überzeugter Parasit dieser
Gesellschaft. Behauptet aber, Malerin zu sein. Die Wege dieser beiden
Frauen kreuzen sich. Ines weicht nicht mehr von Agnes` Seite. Dringt mit
penetranter Selbstverständlichkeit in Agnes` Leben ein, so als ob es das
ihre sei. Agnes lässt es geschehen. Die Unbekannte erscheint ihr
unerklärbar, fremdartig, bedrohlich und doch irgendwie vertraut. Ein
eigentümliches Verhältnis von Anziehung und Abstoßung beginnt sich
zwischen den beiden Frauen zu entwickeln. Agnes ist verwirrt. Verliert die
Orientierung. Woher und warum ist Ines zu ihr gekommen? Gibt es eine
Verbindung zwischen der Fremden und ihrer Tochter? Soll sie weiter nach
ihrer Tochter suchen? Warum weist sie Ines nicht einfach die Tür? Agnes
muss eine Entscheidung treffen.
Ihre bisherigen drei Spielfilme kreisen um Frauen, die nicht in ein
bestimmtes Raster passen, die gegen die Erwartung leben oder handeln.
Was interessiert Sie an diesen Frauenfiguren?
Maria Speth: Die Probleme, Fragen, Widersprüche dieser
Figuren sind nicht spezifisch für Frauen. Insofern könnten diese Figuren
auch Männer sein. Da ich aber selbst Frau bin und die Impulse für meine
Filme
sehr stark aus meinem persönlichen Er-Leben kommen, liegt es für mich
näher, von Frauen zu erzählen.
Für meine Figuren gibt es immer eine Referenz: Menschen, die ich kenne
oder bei Recherchen kennengelernt habe. Das ist mein Ausgangspunkt. Ich
bin Teil mancher meiner Figuren und kann mir vorstellen, dass ich mich
unter bestimmten Lebensumständen vielleicht wie sie oder zumindest ähnlich
verhalten würde.
Das aggressive, unkonventionelle Verhalten der Lynn in meinem Film In
den Tag hinein ist Ausdruck einer Unsicherheit. Wenn man so will:
eine Verarbeitungsform von Verunsicherung, die gesellschaftlich nicht
erwünscht ist. Als ich anfing, an Madonnen zu arbeiten, war ich
selbst Mutter einer dreijährigen Tochter und kämpfte mit dieser Rolle und
den damit zusammenhängenden biologischen und gesellschaftlichen
Erwartungen. Irgendwann las ich einen Artikel über straffällig gewordene
Mütter, die mit ihren Kindern im Gefängnis leben – ein Affront gegen die
Rollenvorstellung von der „guten Mutter“. Ich begann, im
Mutter-Kind-Vollzug in Frankfurt-Preungesheim zu recherchieren. Dort
lernte ich die Frau kennen, die sich im Prozess des Drehbuchschreibens zur
Figur der Rita entwickelte. In gewisser Weise ist Töchter eine
Fortsetzung von Madonnen; ein Weiter- Schreiben einer möglichen
Geschichte der Fanny, Ritas ältester Tochter. Sie ist eine junge,
aggressive Frau, die überwiegend obdachlos auf der Straße lebt. Sie
verachtet diese Gesellschaft. Verweigert sich. Zerstört sich selbst. All
meine Figuren haben Wunden, die man von außen vielleicht nicht unmittelbar
wahrnimmt, die aber ihr Leben maßgeblich bestimmen. Es sind
„Schmerzensfrauen“, die suchen, kämpfen, sich verweigern, die
anderen und sich viel zumuten, die andere und sich fordern – um
wahrgenommen zu werden, um Nähe, Fürsorge oder Geborgenheit zu erfahren.
Sie haben keine Techniken entwickelt, um ihr existenzielles Leid und ihre
Widersprüche zu verbergen.
In Ihrem neuen Film geht es um das Zusammentreffen von zwei Frauen mit
zwei völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen. Was suchen und finden sie
im jeweiligen Gegenüber? In diesem Kammerspiel der Gefühle stoßen Agnes
und Ines emotional immer wieder an ihre Grenzen.
Bei der Entwicklung des Projekts wurde ich häufig gefragt, warum ich nicht
die Begegnung der Mutter mit ihrer tatsächlichen Tochter erzähle, die von
zu Hause weggelaufen ist; warum ich die Tochter durch eine Fremde
repräsentiere. Bei einer solchen Wiederbegegnung wäre es in erster Linie
um die gemeinsame Vergangenheit der beiden gegangen. Das hat mich weniger
interessiert. Ich hatte viel mehr das Bedürfnis, von einer Begegnung zu
erzählen, bei der die Rollen der Mutter und Tochter zwar wahrnehmbar sind,
aber befreit von den Belastungen einer konkreten, gemeinsamen Biografie,
von der Bewältigung einer konkreten, gemeinsamen Vergangenheit – damit
eine Begegnung in der Gegenwart möglich wird. Agnes und Ines finden
Momente von Nähe, Zuneigung, Verbundenheit, Vertrauen. Es gibt die Chance
auf einen Entwurf. Eine Utopie? Dann verlieren sie das wieder. Warum?
Wegen ihrer Verhaltensmuster. Wegen ihres Misstrauens. Wegen ihrer
biografischen Beschädigungen. Wegen ihrer Angst, verletzt zu werden.
Es geht immer um Vertrauen – das auch körperlich ist. Je mehr Vertrauen
geschenkt wird, umso sicherer ist der existenzielle Boden. Das ist vor
allem in der Mutter-Tochter-Beziehung so. Für kurze Momente in der Kammer
des Hotels fühlen sich Agnes und Ines in diesen Rollen anders als in ihrem
früheren Leben.
Sie erzählen die Geschichte dieser beiden Frauen nicht in einem
klassischen Sinn. Kann man sagen, dass Sie Ihren Figuren eher folgen,
Sie für einen gewissen Zeitraum begleiten?
Wie schon bei meinen anderen Filmen sind die Figuren der Ausgangspunkt.
Die Erzählung ergibt sich aus den Figuren. Nach meiner Erfahrung ändern
sich Menschen nach ihrer genetischen und sozialen Prägung wenig. Der
Entwicklungsroman ist also kein Erzählmodell für meine Filme. Sie
beschreiben eher einen Zustand als eine Handlung mit Ausgangs- und
Endpunkt. In Töchter zeige ich einen Ausschnitt von etwa fünf
Tagen aus dem Leben von Agnes und Ines. Für das, was vorher war und was
danach sein wird, gibt es nur Spuren oder Andeutungen. Die Begegnung der
beiden ist sozusagen ergebnisoffen. Es gibt keine Erzähl- oder
Handlungsnotwendigkeit, keine Kausalkette, die zu einem bestimmten Ende
oder zu einer bestimmten Entwicklung der Situation zwingt. Manches ist
wirklich. Vieles ist möglich. Darum geht es.
Interview: Anke Leweke, Berlin, Januar 2014
Credits
Deutschland 2014, 92 Minuten
Regie:Maria
Speth Buch:Maria
Speth, Reinhold
Vorschneider Kamera: Reinhold
Vorschneider Production Design: Olivier Meidinger. Kostüme: Birgit Kilian Ton: Johannes Grehl Sounddesign: Manuel Laval Schnitt: Maria Speth, Gergana Voigt Produzenten: Maria Speth (Madonnen Film); Claudia
Tronnier (ZDF) Produktion: Madonnen Film, Berlin (Deutschland); ZDF -
Das kleine Fernsehspiel, Mainz (Deutschland)
Darsteller: Corinna
Kirchhoff (Agnes), Kathleen
Morgeneyer (Ines), Hermann
Beyer (Kommissar), Lars
Mikkelsen (Bildhauer), Hans
Jochen Wagner (Mitarbeiter der Autovermietung), Fabian
Hinrichs (Thomas),
Peter Kurth (Herr Niemann),
Matthias Matschke (Ole),
Hiroki Mano (Hakuo Tanaka),
Irina Potapenko (Zimmermädchen),
Dzamilja Sjöström (Lydia),
Judith Engel (Mutter im Zug),
Michael Sideris (Mann im Zug).
Format: DCP, Farbe.
Uraufführung: 8. Februar 2014, Berlinale Forum.