Dorogi - Unterwegs

[Inhalt] [über den Film] [Biofilmographie] [Credits] [Fotos] [Skizzen aus dem Expose]

Inhalt
Wenn du unterwegs bist, siehst du eine Vielzahl verschiedener Orte, Menschen und Ereignisse, aber du gehörst nicht dazu, weil du eben unterwegs bist. Du bist selbst der Weg. Dein Blick streift über Gesichter und hält plötzlich bei einem inne, um es lang und intensiv zu mustern. Die Fremdheit des Reisenden erlaubt es dir, Zusammenhänge herzustellen und Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Dingen wahrzunehmen: die Geschichte einer unglücklichen Liebe, das Geräusch des Windes, die Verlorenheit eines Frosches mitten auf einer viel befahrenen Straße, den Sonnenuntergang. Der Raum entfaltet sich in der Bewegung, die Zeit verdichtet sich in einem Punkt - alles existiert hier und jetzt. Oder überall und ewig. Marat Magambetow

Der Regisseur über seinen Film

1. Filmpraxis
Wir brachen auf, um uns die Eisenbahnbrücke, die über die Wolga führt, anzusehen. Es war ein sonniger, windiger Tag, und die Sicht war so, wie wir sie brauchten - reliefartige, weiße Wolken hoch oben am Himmel und gewaltige Wellen mit weißem Schaum, unter denen sich das hohe Gras am Flussufer wiegte. Wir entschlossen uns, diese schöne Szene zu filmen.
Als wir aber feststellten, dass die Brücke ein strategisches Objekt ist (offensichtlich sogar sehr strategisch - der Wache an der Einfahrt nach zu urteilen, die mit einem Maschinengewehr ausgerüstet war), entschieden wir uns, die Angelegenheit formal korrekt zu handhaben und eine Erlaubnis einzuholen. In einem nahegelegenen Dorf fanden wir ein Gebäude, in dem die Wachposten untergebracht waren, die für die Brücke zuständig waren, und fragten dort nach dem befehlshabenden Offizier. Dieser hörte unseren Erklärungen aufmerksam zu, seufzte, kratzte sich und hustete, bevor er endlich zugab, dass dies das erste Mal sei, dass eine solche Bitte an ihn gerichtet würde.
Er dachte nach und sagte dann: "Nun, so lange ihr versprecht, euch nicht auf abgesperrtes Gebiet zu begeben, geht los und macht euren Film. Daran kann nichts Unrechtes sein." Er schien die Situation zu überblicken. Wir scherzten und sagten, dass jeder, der die Brücke hätte photographieren wollen (zum Beispiel die Amerikaner), dies längst aus dem Weltraum hätte tun können und schon alles über sie wüsste, was man überhaupt über sie wissen könnte. Alle lachten, und wir brachen auf.
Kaum aber hatten wir die Kamera aufgestellt, da sahen wir aus der Ferne zwei Männer von der Brücke auf uns zu laufen. Es waren der Kommandant und eine weitere Person, ein sehr junger Mann mit dem Gesicht eines fiesen Karrieristen. (Später, als wir die Details dieses Vorfalls zu rekonstruieren versuchten, stellte sich heraus, dass jeder von uns das Gleiche vermutet hatte: dass er der Vorsitzende des örtlichen Komsomol-Komitees war.) Ganz allgemein gesagt war dieser junge, nicht älter als zweiundzwanzigjährige Mann sehr streng. Jeder Satz, den er zu uns sagte, begann mit den Worten: "Schauen Sie, Sie sind doch erwachsen, Sie müssen doch verstehen..." Der Kommandant versteckte sich hinter seinem Rücken und sah uns schuldbewusst an. Nachdem wir den Eifer des Jungen nüchtern eingeschätzt hatten, hörten wir auf zu diskutieren, packten unsere Sachen zusammen und fuhren davon. Zwei Stunden später wurden wir an der Fähre erneut von der Polizei angehalten. Es sah so aus, als hätte der junge Mann seine Wachsamkeit demonstriert und uns bei den eigentlichen Autoritäten gemeldet. Die Polizei im ganzen Bezirk hatte die Weisung erhalten, nach einem Auto mit einer bestimmten Nummer Ausschau zu halten und es anzuhalten. Glücklicherweise hatten wir einen Brief des Verbandes der Filmschaffenden bei uns, in dem die örtlichen Autoritäten darum gebeten wurden, uns behilflich zu sein. Infolgedessen verbrachten wir lediglich vier Stunden auf dem Polizeirevier, wo man so lange brauchte, um unsere Identität zu überprüfen.
Ein kritischer Moment war es, als der Dienst habende Polizist sich abmühte, meinen und des Kameramanns asiatische Namen am Telefon laut vorzulesen. "Das stimmt, ihre Namen sind nicht russisch", sagte er. "Was? Nein, einer scheint aus Kasachstan zu sein und der andere aus Usbekistan." Uns wurde etwas mulmig - wir fanden die Aussicht wenig reizvoll, für tschetschenische Terroristen gehalten zu werden. Der Kameramann wandte sich an den Polizisten: "Hören Sie, das ist lächerlich. Schließlich sind wir Erwachsene. Außerdem wurde mir der Nik-Preis verliehen. Russische Filmemacher sind stolz auf unsere Filme." Nach einigen Minuten verkündete der Polizist schuldbewusst seine Entscheidung: "Leute, ich habe Verständnis für das, was ihr macht, und ich würde euch gerne einfach so gehen lassen. Aber wir handeln befehlsgemäß, das ist unser Job. Und dann: Was macht ihr in dieser ausgestorbenen Gegend? Hier gibt es nichts, was interessant wäre. Moskau ist da doch etwas ganz anderes. Warum geht ihr nicht und macht dort euren Film?" Um es kurz zu machen: Irgendwann ließen sie uns gehen, und das Ganze hatte für uns keinerlei Folgen. Wenigstens bis jetzt nicht.

2. Filmtheorie
Plötzlich erblickst du einen Ort, ein Feld möglicherweise oder eine Straße, auf die das Licht fällt, und er hat eine magische, ungewÖhnliche Aura. Schnell baust du die Kamera auf, legst die Kassette ein, aber dann verschwindet der Zauber plötzlich: Die Sonne versteckt sich, und die Wolkendecke schließt sich schnell - oder aber löst sich völlig auf. Und auch wenn du drei Tage dort hocken bleibst: Der Moment kehrt nicht wieder.
Du fährst die Straße entlang und siehst auf der Brücke, die sie Überspannt, einen Mönch gehen, der aussieht wie ein Kind und sich unter einem Rucksack, der so groß ist wie er selbst, abkämpft, während ein Strom von Autos unter der Brücke hindurch fährt. Was für ein phantastisches Bild - aber es ist hoffnungslos: Entweder ist es dort nicht gestattet zu halten, oder falls das Halten doch möglich ist, ist der Mönch, wenn du die Kamera draußen hast, schon weg, und du weißt nicht, wann er wiederkommen wird - und ob überhaupt.
An diesem Punkt versinkst du wegen der Unmöglichkeit, den Moment einzufangen (es sei denn, man hat sehr viel Glück), in Verzweiflung.
Oder du musst dich mit schwächeren Nachahmungen begnügen, Schatten von Resten dieses Augenblicks - Unvollkommenheiten.


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Biofilmographie
Marat Magambetow wurde 1968 in Almaty (Kasachstan) geboren. Sein Studium an der Moskauer Filmhochschule WGIK schloss er 1996 ab. Zusammen mit Sergej Losnitzsa drehte er die preisgekrönten Kurzdokumentarfilme Segodnja my postroim dom/Heute bauen wir ein Haus und Shisn', Osen'jLeben, Herbst. Seit 1999 lebt und arbeitet Magambetow in Leipzig.

Filme / Films 1994 : Nisi Dominus (Kurzspielfilm). 1996: Heute bauen wir ein Haus (Co-Regie: S. Losnitsa). 1999: Shisn', Osen' - Leben, Herbst (Co-Regie:
S. Losnitsa). 2002: DOROGI - UNTERWEGS

 

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Credits

Land: Deutschland, Russland 2002
Produktion: pop tutu film, Leipzig
Buch und Regie: Marat Magambetow
Kamera: Alisher Chamidchojajew
Kameraassistenz: Nikolai Lariontsew, Pawel Samochwalow, Pawel Kostomarow
Beratung: Olga Jukechewa
Musik: Mitja Kusnetsow
Ton: Alexander Sakrschewski
Administrator: Alexander Bochan
Produzent: Ulrich Miller
Format: 35mm, Cinemascope, Farbe und Schwarzweiß
Länge: 60 Minuten, 24 Bilder/Sekunde.
Sprache: Russisch.
Uraufführung: 15. Februar 2002, Internationales Forum, Berlin.

Pressematerial: www.kinopresseservice.de

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Fotos:

 

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Marat Magambetow:
Die Reise von Petersburg nach Moskau - Skizzen aus dem Expose

Voran! Voran! Fort mit der Falte, die die Stirne furchte, fort vom Antlitz die strenge Finsternis! Jäh und gänzlich stürzen wir uns in das Leben mit all seinem klanglosen Lärmen, dem Schellengeläut...
Nikolai Gogol, 'Die toten Seelen'

Das Reisen als solches
Gogol muss es wissen: Sich in das Leben stürzen, das ist - wenn schon nicht das Ziel, so doch zumindest eine unausweichliche Seite jeder Reise. Reisen birgt eine Menge Unerwartetes und Unbekanntes, und seien es nur die fremden Menschen, die jeden Tag mit Ihnen in der Straßenbahn die gleiche Strecke fahren. Reisen reißt uns aus unserem gewohnten Lebenskreis, und so ganz weiß man nie, was einem dabei geschieht und wie alles endet.
Wenn wir reisen, geraten wir in die Gesellschaft anderer Menschen, den Strudel neuer Ereignisse; nie gesehene Häuser und Landschaften fliegen an uns vorüber, doch wir gehören ihnen nicht. Wir sind unterwegs, und der Weg gehört niemandem. Den Weg kennzeichnet Unbeteiligtsein: Wir sehen die Umgebung wie eine Postkarte oder ein Bild.
Mir erscheint dieser Blick von außen klarer und unmittelbarer, denn ihm fehlt die innere Vorkenntnis, das emotionale Einbezogensein.
Der Ankömmling, der Fremde, kann mehr sehen und verstehen als derjenige, der dazugehört und vieles einfach nicht mehr wahrnimmt.
Dieses Phänomen gleicht dem 'Reisegefährten-Effekt': Einem Wildfremden, dem man zufällig bei einer Reise begegnet und kaum jemals wiedersieht, vertraut man intimste Dinge an. Denjenigen, die uns am nächsten und liebsten sind, müssen sie verborgen bleiben.
Dieser unbeteiligte, klare Blick ist eine der Besonderheiten, die unsere filmische Reise auszeichnen sollen.

Reisen als Tradition
Die russische Literatur kennt zahllose Werke, die das Unterwegssein zum Gegenstand haben: Reiseromane, Reisetagebücher, Reisenotizen.
Und das verwundert nicht bei einem solchen Riesenland. Kaum zu glauben, dass das Genre des Roadmovie nicht aus Russland kommt.
Das Motiv des Weges hat ebenso tiefe Wurzeln im russischen Volksmärchen: "Gehst du geradeaus, verlierst du dein Pferd, gehst du nach links, verlierst du dein Leben, und wenn du nach rechts gehst, kehrst du nimmermehr heim".
'v\ieder das gleiche Thema: Der Weg ist geheimnisvoll, gefährlich, ohne Ende. Seine Endlosigkeit kann Metapher sein für den ewigen Fortgang der Entwicklung, aber genauso gut die Idee des Sinnverlusts verkörpern: Wenn der Weg kein Ende hat, hat er auch kein Ziel.
Der Historiker Nikolai Karamsin schreibt im Jahre 1792 in seinen 'Aufzeichnungen eines russischen Reisenden': "Russlands zwiefaches Unglück sind die Dummköpfe und die Wege." Bei den Wegen mag er wohl jene Endlosigkeit gemeint haben und die Assoziation des OhneSinn-und-Ziel-Seins, die Wege erwecken. Vielleicht meinte er aber auch schlichtweg ihren Zustand: Russlands Wege sind nun einmal schlecht, das stimmt.
Bei den Dummköpfen bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie wirklich so zahlreich sind in Russland. Vielleicht springen sie dem Reisenden mit seinem unbeteiligten, klaren Blick nur besonders ins Auge? Der Dummkopf versteckt sich ja auch gar nicht: Man sieht ihn von weitem, wie einen einsamen Baum im freien Feld.
Oder ob Karamsin noch etwas anderes im Sinn hatte? Warten wir es ab.

Eine Reise von St. Petersburg nach Moskau Solche Fernreisen bergen zwei große Gefahren. Zum einen weiß man nicht, wie lange und wie viel man filmt. Zum anderen kann man sich irgendwo in den endlosen Weiten verlieren und sein Ziel nie erreichen. Sie wissen doch: Der Weg ist geheimnisvoll, gefährlich, ohne Ende.
Unser Film folgt Radischtschews Route: dieselben Dörfer und Eisenbahnstationen, die er in seinem Werk erwähnt - soweit sie noch vorhanden sind. [Anm.: Anspielung auf 'Reise von Petersburg nach Moskau' (1790) von Alexander Nikolajewitsch Radischtschew, ein bedeutendes Werk der russischen Aufklärung] Und was sieht man dabei?
Erstens den Weg selbst, die Straße. Aller Erfahrung nach eher eine schlechte: eng, kurvenreich, mit holprigem Belag. An den Straßenrändern Autowracks, die nach Unfällen liegen geblieben sind. Meist japanische und deutsche Marken. Sie waren den hiesigen Straßenverhältnissen nicht gewachsen. Nikolai Gogol hatte offenbar wieder Recht: "Was für den Deutschen gut ist, bringt dem Russen den Tod".
Zweitens begegnen wir Menschen, Menschen unterwegs. Vielleicht sogar Weggefährten, die uns ihre Geschichte erzählen. Drittens treffen wir diejenigen, die an der Straße, an dieser Wegstrecke wohnen. In ihrem Leben gibt es soviel Komisches, Langweiliges, Furchtbares, man muss nur genau hinsehen.

Eine Kleinstadt 30 Kilometer hinter Petersburg
An der Zufahrtstraße steht eine Schautafel mit der Losung "Ruhm der KPdSU!" Offenbar hat sich vor zehn Jahren kein tatkräftiger Oppositioneller gefunden, um sie herunterzureissen. Niemand nimmt Notiz von der Tafel. Nebenbei, nie hat irgendjemand von der sowjetischen Agitation Notiz genommen. Deshalb kann es durchaus einen Oppositionellen gegeben haben, aber bemerkt hat er die Tafel auch nicht. Stille Gassen, die in Grün versinken. Auf einer Bank langweilt sich ein Milizionär, auch die Verkäuferin im Lebensmittelkiosk hat Langeweile.
Touristen schlendern gemächlich. Sie sind hergekommen, um sich den berühmten gräflichen Palast anzuschauen, mit dem Park dahinter. Er macht die kleine Stadt bemerkenswert, sonst nichts. (...)

Der Waldweg
Von der Autostraße führt ein Feldweg in den Wald. Wohin, wissen wir nicht: Es gibt kein Hinweisschild.
Wir biegen ein. Lange schlängelt sich der Weg durch feuchten Wald.
Schließlich endet er in einem kleinen Dorf mit etwa zehn Häusern, in denen sich keine Menschenseele findet: Das Dorf ist tot, ausgestorben vor wer weiß wie vielen Jahren. Eingestürzte Dächer, ausgeschlagene Fenster, Lichtmasten mit Fetzen von Stromleitungen daran.
Wie wohl das Veröden solch eines Dorfes vor sich geht? Verlassen alle, die hier gelebt haben, ihre Heimat auf einmal? Oder nach und nach? Oder sterben sie einfach? (...)

Ein nächtliches Gespräch über Gott
Nachts fahre ich im Zug. Ich kann nicht einschlafen wegen meiner Abteilnachbarn: Sie streiten sich, ob es Gott gibt.
Der daran glaubt, ist ein Jüngelchen von etwa siebzehn, offenbar Mitglied einer Sekte. Sein Kontrahent - ein alter Mann an die siebzig.
"Wo ist er denn, dieser Gott?!" ereifert sich der Alte. "Die Popen haben uns immer erzählt, er wäre im Himmel. Aber da ist kein Gott!
Es sind doch Leute im Kosmos gewesen, sogar auf dem Mond. Und wo war er? Nirgends!" "Gott muss man im Herzen tragen", erwidert das Jüngelchen salbungsvoll.
"Alles bloß Ausreden! Wer hat ihn denn jemals gesehen? Du bist ein Schwätzer, das ist alles!", entrüstet sich der Alte.
"Sie, Opa, sollten andere nicht mit Schimpfwörtern belegen !" versetzt das Jüngelchen gemessen. "Ich habe Achtung vor Ihrem Alter, aber beschimpfen lasse ich mich nicht. Es kann nur der Gott sehen, der an ihn glaubt." "Und, hast du ihn gesehen?" will der Alte nicht klein beigeben.
"Noch nicht. Aber ich glaube an ihn." "Da kannst du lange glauben! Du kriegst ihn nicht zu Gesicht. Weil es gar keinen Gott gibt. Auf dem Mond ist er nicht! Und im Kosmos auch nicht!" Damit schließt sich der Kreis, und alles beginnt von vorn. So geht das mehrere Male. Ohne sich über irgendetwas einig geworden zu sein, schlafen beide ein. (...) (Deutsch von Hannelore Umbreit)

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