Gespräch mit der Regisseurin
Frage: Wie haben Sie reagiert, als man Sie bat,
einen Film über ein politisches Thema zu machen?
Claire Devers: Die Aufgabe war reizvoll und beängstigend zugleich.
Reizvoll, weil sich Künstler dieser Art Fragen lange nicht mehr
so unmittelbar gestellt haben. Vor allem in Frankreich nicht. Und beängstigend,
weil Fiktion oft das Risiko birgt, bei der Ausarbeitung des Projekts
unbewußte, unbewältigte Anteile hochkommen zu lassen. In
Bezug auf das Politische des Themas hat mich das etwas gestört.
Außerdem bat mich Pierre Chevalier, das ganze als Krimi aufzuziehen.
Dieser zusätzliche Zwang erschien mir erstmal widersinnig zu der
gestellten Aufgabe, die freie Ausdrucksweise einschloß. Meine
erste Reaktion war also die Flucht. Mit etwas Abstand konnte ich dann
über den Vorschlag nachdenken und mich ihm ganz allmählich
mit meinen eigenen Mitteln nähern. (...)
Frage: Sie haben ihrem Film ein Delikt, kein
Verbrechen zugrunde gelegt.
C.D.: Ich hatte sehr früh die Vorstellung, daß es ein kleines
Delikt sein müßte. So unspektakulär wie möglich.
Ich wollte keine kriminelle Handlung schildern, die zu oft etwas Außergewöhnliches
an sich hat. Und ich wollte das ganze auch nicht als individuelle Frage
abhandeln, sondern die Beziehung der Gesellschaft zur Justiz hinterfragen,
anhand einer unspektakulären, sehr banalen Geste: dem Mundraub.
Mir ist dann wieder dieses fait divers eingefallen, über das alle
Zeitungen ausführlich berichtet hatten. weniger wegen dem, was
die Kommentare damals daraus gemacht haben - ein Sozialdrama a la Zola
-, sondern weil es eine ganz gewöhnliche Person betraf, die repräsentativ
für eine große Gruppe von Menschen steht, die legal an der
Schwelle zur Armut leben. Das zeichnet auch Françoise aus: nichts
prädisponiert sie dafür, aus der Anonymität auszubrechen,
aber ihre Situation kann sie jederzeit jenseits des Gesetzes katapultieren.
Sie tut alles dafür, innerhalb der Norm zu leben. Aber ihr Fall
zeigt, daß die Gesetzgebung ungerecht ist. Das französische
Wohlfahrtssystem müßte dieser Person eine Chance geben. Aber
die Maßstäbe dafür sind äußerst rigide und
eng gesteckt. Es hat doch etwas Krankhaftes,
wenn die Existenz dermaßen vom Einkommen abhängig gemacht
wird.
Frage: Wie haben Sie die Charaktere entwickelt?
Sind Sie dem wirklichen Fall nachgegangen?
C. D.: Was die Person von Françoise angeht, wollte ich mich so
stark wie möglich von der Realität absetzen. Ich wollte die
Psychologie der Figur auf das Wesentliche reduzieren. Darum habe ich
ein wenig übertrieben. Ich wollte sie nochmal erfinden, sie Fiktion
werden lassen. Andererseits habe ich die Richterin Laurence Noel getroffen.
Nicht so sehr, um sie näher kennenzulernen, sondern um konkrete
Informationen über die Justiz und die Praxis der Rechtsprechung
zu sammeln. Ich wußte wenig über das Justizsystem.
Frage: Die Justiz übernimmt eine richtige
Rolle im Film.
C. D.: Mehr als die Justiz selbst spielt die Rhetorik eine Rolle. Wie
im Theater. Die Rechtsprechung ist bühnenreif, sehr theatralisch.
Es war nicht nötig - und ich hatte dazu auch gar keine Lust - den
Prozeßszenen, die in Wirklichkeit schon ziemlich theatralisch
waren, weitere hinzuzufügen. Ich mußte bloß den verbalen
Schlagabtausch der Protagonisten filmen bzw. arrangieren. Die Schauspieler
fühlten sich in ihrem Element. Denis Podalydes hat mir sogar erzählt,
daß ihm seine Berufung als Schauspieler unter anderem klar geworden
sei, als er regelmäßig das Versailler Gericht besuchte und
dort insbesondere einem Plädoyer von Robert Badinter (früherer
franz. Justizminister) gelauscht hat. Natürlich wird vor Gericht
Theater gespielt, schließlich muß man sowohl eine Überzeugung
vermitteln als auch das Gesetz 'interpretieren'.
Wenn man einen Prozeß dramatisiert und die Wortwechsel insofern
schneller erfolgen, d.h. in Dialogform geschehen, verliert sich diese
Rhetorik. Vor Gericht finden keine wirklichen Dialoge statt, sondern
eine Aneinanderreihung rhetorischer Einheiten, von kleinen 'Geschichten',
bis hin zur letzten: dem Urteil.
Frage: Der Film behauptet aber auch, daß
man Françoise nie hätte verurteilen dürfen.
C. D.: Das ist eins der Hauptprobleme der Justiz heutzutage: Wann verfolgt
man eine Sache juristisch? Und wann nicht? Die Staatsanwaltschaft sollte
einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen, welche Fälle sie
aufnimmt, aber das ist nicht immer so. Zur Schadensbegrenzung gibt es
Richter, die zuvorderst mit dem sozialen Ungleichgewicht konfrontiert
sind und die es durchaus vermögen, sowohl dem Individuum wie dem
Allgemeinwohl Rechnung zu tragen. Das sind die Richter, die sich mit
den kleineren Delikten befassen. Ich habe ich sie vor dem Film bei der
Arbeit beobachtet. Das Problem ist im Fall von Françoise nicht
der Diebstahl. Hätte sie Nudeln geklaut, wäre sie nicht vor
Gericht gekommen. Das Problem ist, womit man sich ernährt. Daß
jemand Proteine essen möchte, verweist auf ein gesellschaftliches
Ungleichgewicht. Es zeigt, daß es arm und reich, daß es
unverhältnismäßig große soziale Unterschiede gibt,
die verringert werden müßten. Damit dies nicht geschieht,
beruft man sich auf das Gesetz, und zwar auf ein Gesetz, das für
alle gleich ist und damit das schlimmste von allen. Auf diese Weise
werden die sozialen Ungerechtigkeiten, belassen wie sie sind. Wenn man
die sozialen Unterschiede beseitigen will, dann darf die Justiz nicht
alle gleich behandeln.
Frage: Im Film bekommt man den Eindruck, daß
Männer anders Recht sprechen als Frauen.
C. D.: Das war keine Absicht. Ich bin in diesem Fall der Realität
treu geblieben. Es ist nun mal so, daß das erste Urteil von Frauen
und das zweite von Männern gefällt wurde. Aber es kann schon
sein, daß der Film einen besonderen Blick auf Frauen in der Justiz
wirft. Dieser Blick existiert im Film tatsächlich.
Frage: Wie kamen Sie auf die Idee, den Diebstahl
mit dem Votum für die Front National zu verbinden?
C. D.: In einem bestimmten Moment habe ich mich gefragt, wie wohl die
Akteurin dieses Diebstahls wählen würde. Ich habe die Person,
die aus jener anonymen Menge stammt, die ich zeigen wollte, nochmal
überdacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß meine
Françoise durchaus Front National wählen könnte. Sie
denkt nicht in politisch organisierten Kategorien, dennoch ist es wirklich
ihr Wunsch, totalitär zu wählen. Das ist kein Protestverhalten,
wie man so oft behauptet, sondern ein Verlangen nach Autorität.
In dem Moment, in dem sie mit ihrer eigenen Gewaltbereitschaft nicht
mehr zurechtkommt, entschließt sie sich, diese zu delegieren.
So erklärt sich, wie Françoise wählt. Um diese Wahl
besser in die Geschichte einzubinden, wollte ich es nicht mit der Wahlkabine
auf sich beruhen lassen. Ihre Entscheidung für die Front National
wird darum im Film genau verfolgt. Zunächst ist da die Wahlkabine,
und da akzeptiere ich das Wahlgeheimnis. Dann kommt das Hauptquartier
der Front National, wo ihr klar wird, daß die ihr angebotene Rhetorik
nicht das ist, wonach sie sucht.
Denn im Innersten ist Françoise Barnier, und das rettet sie,
keine Rassistin. Sie glaubt nicht daran, daß rassistische Parolen
ihre Probleme lösen.
In einer dritten Phase wollte ich der Figur Gelegenheit geben, ihr Verhalten
zu erklären. Eine Art dritter Prozeß innerhalb des Films,
der ihr Wahlverhalten zum Thema hat und auf ebenfalls sehr theatralische
Weise im Epilog des Films abgehandelt wird.
Frage: Gibt es eine Beziehung zwischen dem, was
Ihr Film über Diebstahl in bestimmten Situationen sagt, und dem
Aufruf zum zivilen Ungehorsam, den Sie anläßlich der illegalen
Immigranten unterzeichnet haben?
C.D.: Sich auf das Recht auf Ungehorsam im Namen eines höheren
Rechts zu berufen, ist heutzutage ganz wesentlich. Das ist auch keine
neue Idee, sondern schlicht der Versuch, zum Geist des Gesetzestextes
zurückzukehren, wenn seine wortgetreue Auslegung zu einer Ungerechtigkeit
führt. So lauteten unsere Argumente zu jenem Zeitpunkt, als die
Gesetzentwürfe von Pasqua-Debré im Parlament behandelt werden
sollten. Françoise Barnier meint das gleiche. Das ist mir jedoch
nicht sofort klar gewesen. Das kam erst später. Es gibt nur einen
imaginären Faden zwischen dem Film und dem Aufruf zum zivilen Ungehorsam.
Der Begriff Gehorsam ist eng verbunden mit der Tatsache, die eigene
Person zu delegieren. Françoise verweigert durch ihre Tat, das
Recht, anständig zu essen, zu delegieren. Ein Vergehen. Aber einem
ungerechten Gesetz Folge zu leisten, ist auch ein Vergehen. Das ist
übrigens auch mit der Klausel 'Notstand' gemeint, die in ihrem
Freispruch Erwähnung findet. Wer auf solche Weise mit der Justiz
in Berührung kommt, der hat vor einem Dilemma gestanden, der hat
mit sich selbst gerungen. So verhält es sich im Fall Françoise:
sie schwankt zwischen dem Respekt vor dem Gesetz - Schutz des persönlichen
Eigentums, Schuldenbegleichung - und einem Wert, der ihr höher,
ja vordringlich erscheint - dem Recht, ihre Kinder angemessen zu ernähren.
Durch ihr Vergehen mißachtet sie einerseits das Gesetz und beweist
im gleichen Moment ihren Sinn für Moral und ihre tiefe Verbundenheit
mit dem Gesetz.