Am 22. Februar 1996 kommentierte die französische
Tageszeitung 'Le Monde' den Freispruch einer Familienmutter, die in
einem Supermarkt außerhalb von Poitiers Fleisch gestohlen hatte. Der
Freispruch war aufgrund der Anerkennung eines 'Notstands' erfolgt, nach
alter Rechtsprechung auch 'Mundraub' genannt. Der Artikel schloß mit
den Worten: "Das Gericht hat weise und menschlich geurteilt." Ein paar
Tage danach legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Das erste Urteil
wurde zwei Monate später annulliert, die Familienmutter für schuldig
befunden und verurteilt. Auch Françoise Barnier, die Protagonistin des
Films, hat Kinder. Und auch sie begeht eines Tages einen Diebstahl.
Ihre Situation ist kritisch, aber nicht mehr als sonst auch. Sie hat
keine Schulden. Einen Kredit aufzunehmen oder Wohltätigkeitsspenden
anzunehmen, hat sie immer als Demütigung empfunden und abgelehnt;.stattdessen
versuchte sie, ihr Leben nach den sozialen Regeln und Gesetzen der Gesellschaft
auszurichten. Aber an diesem Tag begeht sie einen Diebstahl. Sie fühlt
sich alleingelassen mit der Ausweglosigkeit, den vielen Frustrationen
und Entbehrungen. Sie hat sich zu einer Handlung entschlossen, um deren
gewaltsamen Charakter, um deren Sinnlosigkeit und Absurdität sie weiß.
Auf gewisse Weise verschafft ihr dieser Akt jedoch ein Gefühl der Freiheit,
als zerschlüge sie einen gordischen Knoten. Wir begegnen ihr auf ihrem
Weg durch die juristischen Institutionen, wo sich zwei Konzeptionen
von Recht und Gerechtigkeit gegenüberstehen. Françoise Barnier muß sich
den Regeln eines rüden sozialen Spiels unterziehen. Man verlangt von
ihr, daß sie ihr Verhalten erklärt und sich zu diesem Spiel selbst verhält.
Sie bewältigt dies mit der gleichen Würde, von der sie auch sonst in
ihrem Leben Zeugnis ablegt; indem sie uns das Bild von sich zeigt oder
vielmehr die Idee, die sie von sich selber hat: weder Opfer noch schuldig
zu sein. Wie drückt sich ein solch gewaltsamer Akt auf der politischen
Ebene aus? Françoise Barnier ist kein politischer Mensch. Aber einmal
im Leben fühlt sie sich versucht, die rechtsradikale Front National
zu wählen. Die Wahl geht ganz einfach vonstatten, im Schutz einer Kabine.
Ohne direkte Auswirkung auf ihr Leben. Harmloser Akt einer Bürgerin,
für den man sie ohne Zweifel kaum verurteilen kann. Keiner wird kommen
und sie bitten, ihr Verhalten zu erklären, wie sie es bei dem Diebstahl
machen mußte. Und doch fühlt sie sich wirklich schuldig. Schlimmer,
das Gefühl der Zwecklosigkeit beschämt sie plötzlich. Und dieses Mal
kann sie sich mit niemandem darüber streiten. Auf bestimmte Weise ist
sie erneut zusammengebrochen. Aber sie schafft es nicht, wieder hochzukommen.
Der Film hinterfragt diese beiden Akte - den Fleischdiebstahl, das Votum
für die Front National - und den damit einhergehenden Tabubruch. Auch
wenn der Diebstahl eine Unregelmäßigkeit, einen Verstoß gegen die Ordnung
darstellt, kappt er die sozialen Bezüge nicht; wohingegen das Votum
für die Front National, bei dem es sich scheinbar um einen souveränen
Bürgerakt handelt, die sozialen Bezüge negiert und zerstört.. .